pathologie: pes anserinus-syndrom

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Pes anserinus Syndrom

Definition

Meist als Overuse-syndrom entstandene Insertionstendopathie des Pes anserinus superficialis (Pes-anserinus-Syndrom am Ansatz des Satorius, Semitendinosus und Gracilis an der inneren Tibia) anfangs ohne, später oft mit Befall des Schleimbeutels (Bursitis). Unter Leichtathleten ist dies die zweithäufigste Verletzung nach der Stressfraktur. Besonders Langläufer sind häufig betroffen, da die Ischiocrurale Gruppe einen wesentlichen Teil zum Vortrieb beiträgt. Neben den Sportlern sind auch Nichtsportler betroffen, vor allem übergewichtige Frauen mit Gonarthrose. Nach Dauer und Verlauf kann in akut und chronisch-rezidivierend unterschieden werden. Charakteristisch ist Schmerzauslösung bei Endorotation des Unterschenkels im Kniegelenk bei dessen gleichzeitiger Flexion.

ICD M76.8

Ursache

  1. Overuse: Über- oder Fehlbelastung des Beines
  2. Trauma

Prädisponierend

– Verhalten

  1. längeres Gehen auf instabilem oder schrägem Untergrund
  2. mangelhafte Lauftechnik
  3. Materialmängel, inadäquates Schuhwerk, Laufschuhe ohne Pronationsunterstützung

Bewegungsapparat

  1. Gonarthrose
  2. muskuläre Dysbalancen
  3. Verkürzung der Ischiocruralen Gruppe
  4. Beckeninstabilität
  5. Sprunggelenksinstabilitäten
  6. Hyperpronation / Knickfuß
  7. X-Beine
  8. Plattfuss

– Erkrankungen

  1. Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus

– sonstige Faktoren

  1. Schwangerschaft (endokrinologisch)
  2. weibliches Geschlecht

Diagnose

  1. üblicherweise klinisch
  2. ggf. MRT zum Auschluß anderer Erkrankungen. Dies kann unauffällig sein oder es ist ein Sehnenödem vorhanden, ggf. eine Bursitis (Erguss)
  3. Verschwinden der Beschwerden nach lokaler Lidocain-Infiltration erhärtet die Diagnose, Persistieren kommt einem Ausschluß gleich

Symptome

  1. Belastungsschmerzhaftigkeit, vor allem bei Belastung der Ischiocruralen Gruppe, etwa kräftigeres Gehen, Treppensteigen, Laufen, (Ab)springen. Am Anfang manifestiert er sich als lokaler Anlaufschmerz am medialen Schienbeinkopf, der bei anhaltender Belastung abklingt; später dauerhafte Belastungsschmerzhaftigkeit.
  2. eventuell palpable Schwellung
  3. Druckschmerzhaftigkeit am pes anserinus, distal des Gelenkspalts
  4. bei längerem Bestehen Krepitationen über Sehnenansatz
  5. Morgenschmerz nach Training am Vortag

Therapie

  1. Aussetzen des Trainings oder Reduktion/Anpassung des Trainings
  2. ggf. Einlagen
  3. Techniktraining, Laufanalyse
  4. PT mit Beinachsentraining, Rumpf- und Beckenstabilisierung
  5. Dehnungsübungen für die betroffenen Muskel: die Ischiocrurale Gruppe, die Adduktoren (v.a. den Gracilis) und deren wichtige Antagonisten
  6. Kräftigung der Quadrizeps und der Adduktoren
  7. Koordinations- und Propriozeptionstraining
  8. Überprüfung und Verbesserung der Muskelketten
  9. Injektion von thrombozyremreichem Plasma (ACP)
  10. im akuten Fall: vor allem Entlastung
  11. im chronischen Fall: vor allem Training der betreffenden Muskulatur
  12. falls erforderlich: Gewichtsreduktion
  13. ggf. Optimierung des Materials (Schuhwerk, Untergrund)
  14. ggf. Verbesserung der Einstellung bei Diabetes oder RA
  15. wie bei den meisten Insertionstendopathien: Vermeidung der Schmerzauslösung in Alltag und Training
  16. extrakorporalen Stoßwellentherapie
  17. Vorsicht mit Cortison-Infiltrationen wegen des Risikos für Sehnen (Nekrose, Ruptur)
  18. bei konsequenter konservativer Therapie ist die Prognose gut: meist erfolgt eine Spontanheilung, wenn wenig Risikofaktoren bestehen.
  19. ggf. vorübergehender Umstieg auf andere Sportarten

DD

  1. Reizung des medialen Kollateralbandes
  2. Beschwerden des Innenmeniskus

Asana-Praxis

Hier liegt eine Insertionstendopathie eines der Muskeln vor, die am superfiziellen oder profunden Pes anserinus ansetzen:

  1. superfiziell: Semitendinosus, Gracilis und Sartorius
  2. profund: Semimembranosus

Es muß herausgefunden werden, welcher dieser vier Muskelansätze betroffen ist, da sich die Funktionen der Muskeln unterscheiden:

  1. der Gracilis ist Kniebeuger, Adduktor und dreht das Bein ein wenig aus
  2. der Sartorius ist ebenfalls Kniegelenk, dreht im Hüftgelenk deutlich aus und beugt es
  3. Semimembrannosus und Semitendinosus sind beide Kniebeuger und Hüftextensoren, zudem drehen sie maßgeblich den Unterschenkel ein.

Ist der Gracilis der Hauptverantwortliche für die Beschwerden, so werden hauptsächlich weite Abduktionen mit gestrecktem Kniegelenk eine dehnende Wirkung haben und damit die Spannung auf den Ansatzbereich vermindern. Das kann zu einer deutlichen Linderung der Beschwerden führen, da alle Adduktionen von weiteren Adduktoren unterstützt werden. In der jeweiligen Position sollte das Bein nur so weit wie nötig, nicht aber maximal ausgedreht werden, um die bestmögliche Dehnung des Gracilis zu ermöglichen.

Diese muß bei gestrecktem Kniegelenk geübt werden. Dabei sollte der typische Schmerz möglichst nicht ausgelöst werden. Neben der Dehnung sollte die Resilienz der Muskulatur gesteigert werden, alle Kräftigungen, die nicht stoßartig oder ruckartig sind, sondern eher anhaltend (isometrisch) oder ruhig dynamisch ausgeführt werden, sind hier hilfreich. Auch dabei sollte der typische Schmerz nicht ausgelöst werden. Wie bei der Dehnung sollten auch hier verschiedene Rotationssituationen und Flexionswinkel geübt werden. Den Gracilis isoliert zu kräftigen ist nicht möglich, da andere Adduktoren immer mitbeteiligt sind. Das Maß der Flexion im Kniegelenk verändert aber die Sarkomerlänge, in der der Gracilis arbeitet.

Grundsätzlich sind hier also alle Stehhaltungen indiziert, die die Adduktorengruppe in allen möglichen Sarkomerbereichen bewegend oder haltend mit einbeziehen. Aber auch andere als Stehhaltungen können eine kräftigende Wirkung auf den Gracilis haben, so wird z.B. das untere Bein in der jathara parivartanasana von den Adduktoren in Position gehalten. Ein weiteres Beispiel ist die maricyasana 1, in der mit dem aufgestellten Bein die Position des Beckens stabilisiert wird.

Bekanntermaßen muß bei jedem Muskel seine Gruppe von Antagonisten mitgedacht werden. Unter dem Abduktoren spielt vor allem der kräftigste, der Gluteus maximus, gleichzeitig ein Exorotator, eine gewichtige Rolle. Auch dieser sollte in einem guten Zustand sein, was Dehnfähigkeit und Kraft betrifft.

Da der Gracilis, auch wenn er nicht zu den klassischen Hüftbeugern gerechnet wird, doch hüftflektierende Wirkung hat, sollte auch die Extensionsfähigkeit des Hüftgelenks geprüft und ggf. verbessert werden, dies umso mehr, als diese Bewegungsrichtung im Alltag sehr wenig vorkommt. Wegen seiner kniebeugenden Wirkung eignen sich Hüftextensionen mit streckenden bzw. weit gestreckten Beinen, etwa urdhva dhanurasana.

Zur Kräftigung des Gracilis kann neben der Adduktion auch seine hüftbeugende Wirkung genutzt werden, auch wenn die Hüftbeuger dort sicherlich einen Großteil der Kraft aufbringen werden. Dies kann sowohl in der jathara parivartanasana als auch in tolasana oder supta dandasana und vergleichbaren Haltungen geübt werden.

Neben dem Gracilis setzen die Muskeln der inneren Ischiocruralen Gruppe am Pes anserinus an: Semimembrannosus und Semitendinosus. Diese Muskeln werden durch alle Vorwärtsbeugen gedehnt, ob sitzend oder stehend, dazu durch viele Stehhaltungen. Wegen der vor allem bei weniger beweglichen Menschen deutlich günstigeren Schwerkraftwirkung und der weitaus geringeren Nebenwirkungen im Bereich der LWS sollten die stehenden Vorwärtsbeugen bevorzugt werden. Die größere Krafteinwirkung der stehenden Vorwärtsbeugen hat zudem eine leicht kräftigende Wirkung, was in diesem Falle sehr willkommen ist, es darf nur der Insertionsschmerz nicht ausgelöst werden. Im Bereich Kräftigung finden sich auch einige sehr brauchbare Haltungen, die die Ischiocruralen Gruppe in verschiedenen Sarkomerlängen arbeiten läßt. Ist der Spielraum bis zur Auslösung des Insersionsschmerzes zu gering, können die Kniegelenk ein wenig gebeugt werden. Die Spanne reicht hier von der rechtwinkligen uttanasana und der 3. Kriegerstellung rückwärts gegen die Wand bis zur recht winkelneutralen (nahe Neutral Null in Hüftgelenk und Kniegelenk) purvottanasana mit gestreckten Beinen, einbeinig oder beidbeinig ausgeführt. Für Extensionen des Hüftgelenks wird die Ischiocrurale Gruppe ebenfalls häufig kraftvoll eingesetzt, viele Rückbeugen sind also auch geeignet.

Der letzte Muskel, dessen Ansatz am Pes anserinus liegt, ist der Sartorius. Dieser wird in allen Haltungen benutzt und gekräftigt, die eine Bewegung ausführen, wie sie zum Einnehmen des Lotussitzes oder Schneidersitzes erforderlich ist. In den asanas wird typischerweise diese Bewegung nicht aus Kraft des Sartorius ausgeführt, sondern die Arme werden genutzt, um durch bestmögliche Exorotation des Oberschenkels im Hüftgelenks eine gute Situation für den Innenmeniskus zu schaffen. Bewegungen oder Haltungen, die alle Bewegungsrichtungen des Sartorius abdecken und gleichzeitig innenmeniskusfreundlich sind, scheint es nicht zu geben. Selbst das schwerkraftgemäße Anheben des Unterschenkels im Sitzen in Richtung Waagerechte bei ausgedrehtem Oberschenkel erzeugt einen Valgusstress im Kniegelenk, den nicht jeder verträgt und der niemandem nützt. Hier kann der Sartorius also nur synergistisch zu anderen Muskeln angesprochen werden, die zu der jeweiligen Bewegung mehr Kraft beisteuern. Dies sind

  1. Exorotation des Oberschenkels im Hüftgelenks: Viele Stehhaltungen mit auszudrehendem Bein
  2. Beugung des Hüftgelenks: Haltungen, in denen das Hüftgelenks gegen die Spannung der Hüftextensoren (alle sitzenden oder stehenden Vorwärtsbeugen) oder gegen die Schwerkraftwirkung gebeugt wird ( tolasana)
  3. Beugung des Kniegelenk oder ohne erkennbare Beugung Stabilisierung des Kniegelenk gegen überstreckende Momente: hiermit gibt es wenig Möglichkeiten, den Sartoriuszu kräftigen, da immer die Muskeln beider Seiten der Ischiocruralen Gruppe mit wirksam sind und den größeren Teil das Last tragen. Asanas bedienen dies nicht, jedoch lassen sich funktionale Übungen dazu konstruieren.

Die zu den Risikofaktoren gehörende Verkürzung der Ischiocruralen Gruppe ist im oben Gesagten bereits abgedeckt. Der Hyperpronation als Risikofaktor kann mit Kräftigung der Supinatoren des Fußgelenks begegnet werden. Dazu gehören die Balancehaltungen und viele Stehhaltungen, in denen mit der Unterschenkelmuskulatur ein stabiler Stand geschaffen werden und auftretenden kleinen Schaukelbewegungen um die Fußlängsachse gegengesteuert werden muß. Dazu eignen sich nicht nur die Stehhaltungen auf einem Bein wie vrksasana oder 3. Kriegerstellung, sondern auch alle Haltungen mit schmaler physikalischer Stützbasis, bei der das Becken in Richtung eines Fußes zeigt wie in parsvottanasana oder parivrtta trikonasana. Diese Haltungen trainieren auch gleich die Muskulatur, die das Fußlängsgewölbe mit aufrechterhält.

Abschließend kommt noch die Kräftigung und Dehnung des Quadrizeps hinzu, der als Antagonist der Ischiocruralen Gruppe eine wichtige Rolle spielt.

Asanas

Da das Störungsbild ätiologisch uneinheitlich ist und unterschiedliche Muskelansätze betroffen sein können, muß die folgende Liste ohne spezielle Reihenfolge angegeben werden.

  1. Asanas in 721: Dehnung der Ischiocruralen Gruppe
  2. Asanas in 722: Kräftigung der Ischiocruralen Gruppe
  3. Asanas in 811: Dehnung des Quadrizeps
  4. Asanas in 812: Kräftigung des Quadrizeps
  5. Asanas in 756: Dehnung des Gracilis
  6. Asanas in 757: Kräftigung des Gracilis
  7. Asanas in 831: Dehnung des Sartorius
  8. Asanas in 832: Kräftigung der Sartorius
  9. Asanas in 862: Kräftigung der Supinatoren