pathologie: proximal hamstring tendonipathy

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PHT – Proximal Hamstring Tendonipathy: Reizung des Ursprungs der Ischiocruralen Gruppe

Definition

Insertionstendopathie im Sinne eines Reizzustands des Ursprungs der Ischiocruralen Gruppe am Sitzbein. PHT tritt meist als Overuse-Syndrom auf. Verbreitet bei Langstreckenläufern, Sprintern und Hürdenläufern, aber auch einigen Mannschaftssportarten, die abrupte Richtungswechsel erfordern, die von der Muskulatur hohe Leistungsspitzen verlangen, teils auch in exzentrischen Belastungsimpulsen. Upright running, also das fortbewegungsarme Laufen mit weit zur Brust gerissenem Knie, neigt auch durch seine großen Hüftflexionswinkel und die darin geforderte starke negative Beschleunigung gegen Ende der Bewegung dazu, PHT hervorzurufen. Aber auch Nichtsportler können davon betroffen sein. Beim Langlauf und viel mehr noch beim Sprinten wird die Phase, in der die Bewegung des vorderen Unterschenkels im Kniegelenk verzögert wird und in der exzentrischen Kontraktion Energie speichert, als besonders kritisch angesehen, da die Energiespeicherung hauptsächlich in der Elastizität der Sehnen erfolgt. Diese Art von Energiespeicherung ist für ein höheres Leistungsniveau beim Laufen und Sprinten aber unerläßlich, da es vor allem effizienzsteigernd ist. Die Anforderungen an die Ischiocrurale Gruppe und ihren Ursprungsbereich steigen mit Geschwindigkeit, Schrittlänge und (positivem) Neigungswinkel, also beim bergauf Laufen. Es handelt sich um ein Störungsbild mit unterschiedlichem Anteil an peritendinöser Inflammation, Degeneration und Anrissen. Üblicherweise startet das Geschehen mit kleinen, klinisch inapparenten Schäden und steigert sich unter wiederholter Belastung bis zum bemerkten Aufflammen. Dabei spielt auch die Relation zwischen Belastung (Intensität und Frequenz) zu Selbstheilung eine Rolle. Fallstudien zeigen, daß beim PHT oft eine verminderte Kraft der Ischiocruralen Gruppe zu Knieflexion oder Hüftextension nachweisbar ist, die als Kofaktor der Entstehung in Erwägung gezogen werden muß. Während das Kraftdefizit in der Hüftextension schwerer nachweisbar ist, da vor allem der starke Gluteus maximus an der Bewegung beteiligt ist, kann die Kniebeugung auf einer Beincurl-Maschine recht gut weitgehend isoliert getestet werden.

Eine Schwäche des Gluteus maximus ist zwar schwieriger zu testen, wird jedoch klar zu den begünstigenden Faktoren gerechnet, da bei gleichem Drehmoment zur Extension die Ischiocrurale Gruppe mehr leisten muß. Ist der Gluteus medius schwach, kann dieses über eine unsaubere Führung des Beckens in der Frontalebene ebenfalls die Last auf der Ischiocruralen Gruppe erhöhen. Auch ein Mangel an Kraft des Synergisten Adduktor magnus sowie Störungen in dem distalen Teil der kinetischen Kette oder dem Antagonisten Quadrizeps können mitverursachend wirken.

Da auch die Kompression der Ursprünge der Ischiocruralen Gruppe eine Rolle in Entstehung und Erhalt der Störung spielen kann, muß längeres ununterbrochenes Sitzen zu den schmerzauslösenden und verschlechternden Einflüssen gerechnet werden, was die Empirie klar stützt. Besteht die Option, kann der ischiocrurale Ursprung durch Sitzen mit einem leicht nach vorn gekippten Becken entlastet werden. dazu ist etwa ein handelsüblicher Sitzkeil sehr hilfreich. Klar gemieden werden muß hingegen das nach hinten gekippte Becken. Im übrigen wird die Kompression der Sehnen auch als Kofaktor bei der Entstehung des PHT bei häufiger sehr weiterFlexion in den Hüftgelenken und gestreckten Kniegelenken wie bei einer sehr gut ausgeführten uttanasana bei sehr beweglichen Menschen diskutiert. Dabei ist allerdings zu untersuchen, ob die betroffenen Probanden eventuell gleichzeitig in die Gruppe derjenigen gehören, die adäquater ischiocrurale und gluteale Kraft und Resilienz ermangeln, schlicht weil ihr Trainingsplan derartigen Einheiten nicht vorsieht. Davon ab mögen auch Körpermaße und Proportionen eine gewisse Rolle spielen.

Der Ansatz des Semimembranosus ist häufiger betroffen als der gemeinsame Ansatz des Bizeps (caput longum) mit dem Semitendinosus. In seltenen Fällen ist auch der noch tiefer (kaudaler) am Sitzbein liegende Ursprung des Pars ischiocondylaris des Adduktor magnus betroffen, da dieser Teil ebenfalls hüftextensorische Funktion hat und von den auslösenden Tätigkeiten und Umständen betroffen ist. Dann lösen nicht nur geradlinige Vorwärtsbeugen wie uttanasana und exorotiertabduzierte Hüftflexion wie trikonasana die bekannten Schmerzen aus, sondern auch weite Abduktionen. Das kann so weit gehen, daß auch bei sehr beweglicher Ischiocruraler Gruppe, in der eine aufrechte upavista konasana noch gar keine Dehnung der Ischiocruralen Gruppe darstellt, ab einem gewissen Abduktionswinkel der bekannte Schmerz ausgelöst wird, der mit Verringerung der Hüftflexion erkennbar nachläßt. Auch Haltungen wie baddha konasana können dann den Schmerz auslösen. Terminologisch würde man bei Mitbetreff des Ursprungs des Adduktor magnus von einem zusätzlichen PAMT sprechen.

Die Dicke, Fasrigkeit und schlechte Durchblutung des sehnigen Ursprungs dieser Muskeln am Knochen erschwert die Heilung. Schmerzauslösende Tätigkeiten führen zum Erhalt des Reizzustandes.
Mit zunehmendem Grad der Ausprägung des PHT können Alltagsbewegungen wie Treppensteigen mit übersprungener Stufe, normales Treppensteigen, schnelleres Gehen oder sogar langsames Gehen bereits den Schmerz auslösen.

Zu den Auslösern gehören vor allem alle Arten von Hüftflexionen, je eher, je höher die statische oder dynamische Last ist und je geringer der Flexionswinkel im Kniegelenk ist. Bei stärkerer Ausprägung aber auch short-range, Hüftextensionen um Anatomisch Null herum wie das Gehen. Während des Laufens (weit abgeschwächt gilt dies für das Gehen ähnlich) hat die Ischiocrurale Gruppe drei Aufgaben:

  1. Verzögern der Kniestreckung durch eine exzentrische Kontraktion, beginnend etwa mit dem Unterschreiten von 30° Knieflexion. Diese Verzögerung schützt das Kniegelenk vor Überstreckung, die Ischiocrurale Gruppe vor Zerrung und leitet die kinetische Energie des Unterschenkels nach proximal.
  2. Maßgebliche Mitwirkung an der Hüftextension, die hauptsächlich den Vortrieb erzeugt
  3. Unterstützung des Gastrocnemius bei der Beugung des Kniegelenk

Ätiologisch werden mehrere Faktoren diskutiert:

  1. Scherkräfte zwischen Ansatz und Sitzbein
  2. Kompression des betroffenen Bereichs
  3. Die Verdrängung des Sehnenbereichs durch das Sitzbein bei weiter Flexion

Die Therapie des PHT ist in aller Regel rein bewegungsorientiert und umfasst strikte Schonung vor Schmerzauslösung (bis auf rehabilitatives Training, siehe unten) und vor allem regelmäßige Kräftigung. Abhängig von Ausprägung und bewegungstherapeutischem Bemühen kann die Störung durchaus 6 bis über 12 Monate andauern.

Ursache

  1. relative Überlastung und inadäquate Trainingssteierung
  2. Vorschädigungen
  3. Übermäßgie oder nicht hinreichend aufgewärmt ausgeführte Auslösebewegungen wie Ausfallschritte, Bergauf Laufen, Sprints
  4. große Leistungsanforderung an die Ischiocrurale Gruppe in weiter Flexion im Hüftgelenk
  5. intensive Dehnungen der Ischiocruralen Gruppe in weiter Flexion im Hüftgelenk bei (näherungsweise oder vollständig) gestrecktem Kniegelenk wie im Yoga, Pilates,..
  6. Längeres Sitzen kann die Situation verschlechtern (Versorgungslage, Verkürzung)
  7. Training in bereits ermüdetem Zustand

Prädisponierend

– Verhalten

  1. Trainings- oder Materialmängel
  2. abträgliche Umweltbedingungen wie Kälte, Feuchtigkeit

Bewegungsapparat

  1. Fehlstellungen
  2. Beinlängendifferenzen
  3. Muskuläre Dysbalancen
  4. verminderte Flexibilität, vor allem, aber nicht nur der Ischiocruralen Gruppe
  5. Schwäche des Bandapparates mit Folge lockerer Gelenkführung
  6. Propriozeptive Defizite
  7. bereits druckschmerzhafte Sitzbeinhöcker
  8. Schwächen anderer Bereiches des Bewegungsapparates, die im Bewegungsablauf relevant sind, also z.B. des Cores beim Running
  9. Dysfunktionalität des Beckens (inkl. ISG)
  10. bekannte oder unbekannte Vorschäden relevanter Bereiche
  11. schwache, belastungsinadäquate Muskulatur
  12. fehlende longitudinale Muskeladaption

– sonstige Faktoren

  1. Weibliches Geschlecht
  2. Alter: Massen- und Kraftverlust der Muskulatur, Degeneration der Sehnen
  3. Übergewicht

Symptome

  1. profunde, einige Zentimeter vom Sitzbein aus entlang der Ischiocruralen Gruppe ausstrahlende Bewegungs- und vor allem Belastungsschmerzhaftigkeit, die von der Höhe der Belastung, aber vor allem auch der Geometrie abhängt (weite Flexion im Hüftgelenk bei mehr oder weniger gestrecktem Kniegelenk) abhängt (nahe der Streckung des Kniegelenk weit eher auftretend).
  2. Druckschmerzhaftigkeit des Bereichs
  3. Auslösung und Verschlechterung durch Laufen, Sprinten, (tieferes) Kniebeugen, Ausfallschritte, weite Vorwärtsbeugen
  4. meist einschleichender Verlauf
  5. schmerzauslösende Belastung verschlechtert
  6. möglicherweise Verschlechterung durch längeres Sitzen

Therapie

  1. Vermeidung auslösender und erhaltender Faktoren, insbesondere schmerzhafte Winkel in Vorwärtsbeugen und schmerzhaft hohe Lasten
  2. regeneratives Kräftigungstraining nur bis vor die Schmerzauslösung, mit eher kleineren bis mitleren Lasten und höheren Wiederholungszahlen
  3. Erhalt und Förderung der Beweglichkeit
  4. Auffinden und Beseitigen von prädisponierenden Faktoren

NHK

Asana-Praxis

Hier sei auf die Erklärung in der FAQ verwiesen.

Asanas

Neben verschiedenen Haltungen, die die Ischiocrurale Gruppe als Extensoren des Hüftgelenks in mindestens mittlerer Sarkomerlänge stärken wie

  1. utkatasana
  2. rechtwinklige uttanasana
  3. rechtwinkliger Schulterstand
  4. rechtwinkliger Kopfstand
  5. Kriegerstellung 3
  6. Kriegerstellung 1

und anderen vergleichbaren Haltungen, bieten sich natürlich auch die Haltungen an, in denen wegen kurzer Sarkomerlänge eine Schmerzauslösung unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist. Dazu zählen etwa

  1. purvottanasana in allen Varianten, vor allem denen mit gestreckten Beinen oder mit einem gehobenen Bein, in dem darauf geachtet werden muß, den Schmerz nicht auszulösen
  2. setu bandha sarvangasana
  3. eka pada setu bandha sarvangasana unteres Bein. Vorsicht beim gehobenen Bein!
  4. urdhva dhanurasana
  5. eka pada urdhva dhanurasana unteres Bein. Vorsicht beim gehobenen Bein!
  6. salabhasana

Auch korrekt ausgeführte kräftigende Haltungen aus dem Sport wie

  1. Kniebeugen mit und ohne Gewicht
  2. Kreuzheben, auch hier wieder: nur bis vor die Schmerzauslösung; zur Vereinfachung können die Kniegelenk ein wenig gebeugt werden
  3. Hyperextensions, auch nur bis vor die Schmerzauslösung
  4. Beinbizeps-Curls an der Maschine

Bei sämtlichen Haltungen und Übungen zum rehabilitativen Training gilt folgende Regel: die Bewegungen oder Haltungen sollten nicht schnell oder gar schwunghaft ausgeführt werden, sondern eher etwas länger, um eine brauchbare TUT zu erreichen. Der Schmerz sollte dabei nicht ausgelöst werden oder maximal NRS 3 entsprechend stark sein, und dann unter der Bedingung, daß a) der Schmerz binnen 24 Stunden nach der Belastung vollständig abklingt und b) der Schmerz in der Belastung nicht über die Abfolge der Übungseinheiten zunimmt.

Zu den empfehlenswerten Übungen gehören über die oben genannten hinaus, die unter den oben genannten Bedingungen bis zu NRS 3 ausgeführt werden können:

  • single leg bridge (entspricht etwa dem einnehmen einer eka pada setu bandha sarvangasana mit vorab angehobenem Bein)
  • prone hip extension (entpricht etwa dem einseitig ausgeführten Bein-Anteil der salabhasana)
  • prone leg curl (eine Maschinenübung, bei der in Bauchlage auf einem zur leichten Hüftflexion angewinkelten Tisch gegen Widerstand der Maschine ein oder beide Kniegelenke gebeugt werden.
  • Nordic hamstring curls (Bewegung des ganzen Körpers bei gestreckten Hüftgelenken relativ zu fixierten Unterschenkeln)
  • bridging progressions (dynamisch wiederholt eingenommene setu bandha sarvangasana)
  • supine leg curl (einbeinige Kniebeugung und –streckung bei auf dem Boden aufliegender Schulter und Standfuß auf einem Rollbrett)
  • lunge (Ausfallschritt)
  • arabesque (dynamisch wiederholt eingenommene Standwaage ähnlich Kriegerstellung 3, aber mit leicht gebeugtem Standbein), auch: „diver“
  • hip thrusts (Hüftextensionen bei erhöht abgelegtem Oberkörper udn Füßen auf dem Boden)
  • einbeinige Deadlifts
  • sled push or pull (gewichtbeladenen Schlitten schieben oder ziehen)



Sind die Strukturen einmal deutlich gekräftigt, und ist die Schmerz verursachende Reizung ausgeheilt, kann die verlorengegangene Beweglichkeit umso sicherer wieder aufgearbeitet werden. Eine weitere unterstützende Maßnahme sind Tätigkeiten wie strammes Gehen, vorzugsweise bergauf und Treppensteigen, immer vorausgesetzt, sie lösen den Schmerz nicht aus, bzw. so modifiziert oder parametrisiert, daß sie ihn nicht auslösen. Natürlich versteifen sie die Beinrückseite, aber sie fördern das Abheilen und kräftigen die Strukturen. Laufen mit schnelleren Passagen dürfte auch einen positiven Einfluss haben. Alle ruckartigen Bewegungen sollten jedoch eher gemieden werden, genauso alle Tätigkeiten, die den Schmerz auslösen, auch intensive Dehnungen!