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Gracilis-Syndrom (Adduktoren-Syndrom, Fußballerleiste, sportsmans groin, Pubalgie)
Definition
Das Gracilis-Syndrom ist als Insertionstendopathie ein Overuse-Syndrom am unteren Schambeinast, zuweilen begleitet von einer aseptischen Knochennekrose des ossären Intertionsbereichs, der Ostitis pubis. Es darf nicht verwechselt werden mit dem Pes-anserinus-Syndrom, das zwar ebenfalls den Gracilis betreffen kann, aber an seinem distalen Ansatz. Das Gracilis-Syndrom tritt oft bei Fußballern als Overuse-Syndrom auf. Die am meisten betroffenen Muskeln sind Adduktor longus, Adduktor magnus, Adduktor brevis, Gracilis.
Allgemeines zu Störungen der Adduktoren
Adduktoren können auch von Zerrungen und Muskelfaserrissen betroffen sein, Partialrupturen spielen sich vor allem im muskulotendinösen Übergang ab, aber auch Insertionstenopathien am Schambeinbogen im Sinne einer Sportlerleiste oder Fußballerleiste sind nicht selten. Störungen werden in akute Verletzungen und Overuse-bedingte chronische Phänomene unterteilt. Einige Sportarten wie Fußball, aber auch Handball und Eishockey nutzen die Adduktoren intensiv und extensiv als heranführende des Oberschenkels und als Hüftbeuger. Viele der Störungen entstehen durch wiederholte Inanspruchnahme hoher Muskelleistungsfähigkeit der Adduktoren. Dysbalancen zwischen Adduktoren und Abduktoren prädisponieren zu Störungen. Aus dem Eishockey ist bekannt, dass die Gefahr einer Zerrung der Adduktoren 17-mal höher ist als normal, wenn die Kraft der Adduktoren 80% der Kraft der Abduktoren unterschreitet. Plötzliche grobe Überdehnung führt zu Muskelzerrungen und Muskelfaserrissen. Das Stop and Go ist hier disponierend. Wegen der verminderten Elastizität des Narbengewebes disponieren noch nicht oder schlecht ausgeheilte Störungen zu Rezidiven. Ermüdung im muskulären und neuromuskulären Sinne bei intensivem Training und Wettbewerb sowie mangelnder Erholung disponiert ebenfalls zu Störungen. Von der Sportlerleiste oder Fußballerleiste ist besonders der Ursprung des
Adduktor longus betroffen. Im finnischen Profi-Eishockey betragen Zerrungen der Adduktoren 43% aller Muskelverletzungen, in Schweden 10% aller Verletzungen. Symptomatisch dominiert bei der Zerrung ein zunehmender Tonus der Muskulatur und akut einsetzende, messerstichartige Schmerzen in den Adduktoren. Die Intensität der Symptome richtet sich nach dem Ausmaß der Verletzung. Der Muskelfaserriss hingegen wird als stechend und reißend empfunden, er zeigt dann eine Druckschmerzhaftigkeit und Schmerzen bei Adduktion gegen Widerstand. Schließlich bildet sich ein Hämatom. Die Schmerzen der Fußballerleiste oder Sportlerleiste sind eher dumpferer Natur und nahe der Symphyse, sie prominieren vor allem am Beginn der Belastung, auch Ruheschmerzen sind möglich. Bei der Palpation von Muskelverletzungen sollte die Muskulatur im entspannten und angespannten Zustand, in ihrer Verlaufsrichtung und quer dazu palpiert werden. Für eine erste Einschätzung eignet sich die Sonographie sehr gut, die auch dynamische Bewegungen gut abbildet. Genaueres zeigt dann ein MRT, was auch Komorbiditäten und Kofaktoren zeigen würde. Für die Klassifikation der Muskelverletzungen siehe das Munich Consensus Statement, welches nicht nur klassifiziert, sondern auch eine therapeutische Richtung vorgibt. Nach dem initialen
PECH erfolgt eine konservative Therapie. Eine Avulsion hingegen muss operativ versorgt werden. Die konservative Versorgung ist physikalisch und physiotherapeutisch, kann aber auch Tapes und Infiltrationstherapie beinhalten. Schließlich ist die Bewegungstherapie essentiell. Im Falle einer operativen Versorgung darf das Bein für drei Wochen nur mit 20 bis 30 kg belastet werden, aktive Adduktionen müssen unterbleiben. Ab der dritten Woche wird begonnen mit dem Fahrradergonometer zu trainieren. Die zuvor erlaubten 40° bis 60° Flexion des Hüftgelenks werden auf 90° vergrößert. 6 Wochen postoperativ beginnen die ersten Dehnungsübungen, Lauftraining nach 12 Wochen. Das Return to play braucht vier bis fünf Monate. Müssen Tenotomien des Adduktor longus durchgeführt werden, was recht selten ist, reduziert sich die Belastbarkeit im Sport auf etwa zwei Drittel. Ebenfalls sehr seltene akute Sehnenrupturen werden auch operativ versorgt. Wenn eine konservative Versorgung möglich ist, wird die ursprüngliche Leistungsfähigkeit früher, nämlich etwa nach der Hälfte der Zeit, erreicht als im Falle der operativen Versorgung. Risse des Adduktor longus-Sehnenbereichs können einer Arbeit von Müller-Wohlfahrt zufolge im Mittel nach knapp 89 Tagen wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückgeführt werden ohne das funktionelle Defizite nachweisbar gewesen wären. Im Handball ist die Seitwärtsbewegung des Körpers noch wesentlich wichtiger als im Fußball, weswegen schon eine um ein Drittel reduzierte Kraft der Adduktoren einen deutlichen Leistungseinbruch nach sich zieht. Die Behandlung richtet sich also auch nach den Anforderungen, nicht nur nach der Entität.
Ursache
- Overuse
- Traumatisch: Bewegung mit extremer passiver oder aktiver exzentrische Kontraktion „Überdehnung“
- Stressfraktur am Schambein
- Knochenentzündung des Schambeins
Prädisponierend
– Verhalten
- Sportarten mit ausgeprägten Standbein-/Spielbein-Abfolgen
- Sportarten mit forcierten Abduktions– und Adduktionsbewegungen
- Sportarten mit raschen Laufrichtungswechseln oder Gegnerkontakt wie Fußball (auch wegen Schußtechnik)
- Sportarten mit schnellem Antritt und Abstoppen
- asymmetrische Belastungen wie beim Hürdenlaufen
- Ausdauer-Laufsport
- Alle Sportarten, die muskulär auf den Schabmeinbereich einwirken
– Bewegungsaparat
- statische Fehlbelastungen wie etwa durch Beinlängendifferenzen
- muskuläre Dysbalancen
- verkürzte Adduktoren, schwache Adduktoren
- Erkrankungen und Fehlstellungen des Hüftgelenks
– allgemeine Faktoren
- M > W
Diagnose
- Anamnese
- Körperliche Untersuchung (Seitenvergleich !): Dehnungsschmerzhaftigkeit, Druckschmerzhaftigkeit am betroffenen Ursprung, Belastungsschmerzhaftigkeit bei Anspannen gegen Widerstand
- MRT zeigt intraossäre Signalanhebung des parasymphysealen Knochenmarks
Symptome
- Druckschmerzhaftigkeit am Insertionsbereich
- leichte Bewegungsschmerzhaftigkeit
- deutliche Belastungsschmerzhaftigkeit, ausstrahlend entlang des Verlauf des Gracilis
- Dehnungsschmerzhaftigkeit
- oft, aber nicht zwingend beidseitiger Befall
- meist länger bestehende, einschleichend begonnene Beschwerden vor Diagnosestellung
- schnelles Reizdiv nach Trainingspause
- zwischen den Seiten wechselnde Dominanz des Schmerzes
- Anlaufschmerz, der bei normalem Gehen nachlässt
- Auslösung durch ruckartige Bewegungen und Richtungsänderungen
Komplikationen
- verzögerte Heilung durch die Schwierigkeit, den Bereich komplett ruhig zu stellen.
- Bildung von krankhaftem Narbengewebe
- Knochenabbau
- Zysten
- Stressfraktur
Therapie
- Schonung inkl. Sportkarenz, danach vorsichtiger sportlicher Wiederaufbau
- Therapie der Risikofaktoren
- PT
- NSAR
- Neuraltherapie
- lokale Injektionen von Kortikosteroiden und Lokalanästhetika
- bei erfolgloser konservativer Therapie symphyseale Kürettage mit Abtragung des entzündlichen Gewebes
DD
- symphysennahe Osteomyelitis, etwa nach UGT-Infektion oder OPs
- Hüftkopfnekrose
- Koxitis
- Nervenengpasssyndrome
- andere fortgeleitete Schmerzen
- Leistenhernien
- Sportlerhernien oder »weiche Leiste«
- Osteomyelitis
- Zerrungen der Adduktoren oder Leistenzerrungen
- ISG-Blockaden
Asana-Praxis und Bewegungstherapie
Da hier eine Insertionstendopathie der Adduktoren vorliegt, ob nun des Gracilis oder anderer Adduktoren, muß hier für eine gute Dehnfähigkeit der Adduktoren gesorgt werden. Dabei sollte der typische Schmerz möglichst nicht ausgelöst werden. Auch ist es gut, die Adduktoren in allen Rotationssituationen und verschiedenen Flexionswinkeln des Hüftgelenks zu dehnen. Neben der Dehnung sollte die Resilienz der Muskulatur gesteigert werden, alle Kräftigungen, die nicht stoßartig oder ruckartig sind, sondern eher anhaltend (isometrisch) oder ruhig dynamisch ausgeführt werden, sind hier hilfreich. Auch dabei sollte der typische Schmerz nicht ausgelöst werden. Wie bei der Dehnung sollten auch hier verschiedene Rotationssituationen und Flexionswinkel geübt werden.
Soll der Gracilis gedehnt werden, ist dazu ein mehr oder weniger gestrecktes Kniegelenk erforderlich. Er kann aber nicht isoliert gekräftigt werden, da andere Adduktoren immer mitbeteiligt sind. Das Maß der Flexion im Kniegelenk verändert aber die Sarkomerlänge, in der der Gracilis arbeitet.
Grundsätzlich sind hier also alle Stehhaltungen indiziert, die die Adduktorengruppe in allen möglichen Sarkomerbereichen bewegend oder haltend mit einbeziehen. Aber auch andere als Stehhaltungen können eine kräftigende Wirkung auf die Adduktoren haben, so wird z.B. das untere Bein in der jathara parivartanasana von den Adduktoren in Position gehalten. Ein weiteres Beispiel ist die maricyasana 1, in der mit dem aufgestellten Bein die Position des Beckens stabilisiert und von hinten gegen den Arm gedrückt wird.
Bekanntermaßen muß bei jedem Muskel seine Gruppe von Antagonisten mitgedacht werden. Die Abduktoren sollten hier jedoch keine wesentliche Rolle spielen, denn einerseits finden, wenn man von garudasana mal absieht, sowohl im Alltag als auch im Yoga kaum so ausgeprägte Adduktionen statt, daß eine verminderte Beweglichkeit der Abduktoren einen Schaden an den Adduktoren verursachen oder an dessen Entstehung mitbeteiligt sein könnte.
Da die Adduktoren, auch wenn sie nicht zu den klassischen Hüftbeugern gerechnet werden, doch hüftflektierende Wirkung haben, sollte auch die Extensionsfähigkeit des Hüftgelenks geprüft und ggf. verbessert werden, dies umso mehr, als diese Bewegungsrichtung im Alltag sehr wenig vorkommt. Im Fall des Gracilis können wegen dessen kniebeugender Wirkung dehnend zu den bekanntermaßen hochwirksamen Übungen Hüftextensionen mit streckenden bzw. weit gestreckten Beinen geübt werden, etwa urdhva dhanurasana.
Wegen der hüftbeugenden Wirkung der Adduktoren sollte auch die Kraft zu Hüftflexionen geübt werden. Auch wenn die Hüftbeuger dort sicherlich einen Großteil der Kraft aufbringen werden, so können je nach Konstruktion der Haltungen die Füße zueinander gedrückt werden, so daß die Adduktoren für zwei Bewegungsrichtungen arbeiten müssen. Dies kann sowohl in der jathara parivartanasana als auch in tolasana oder supta dandasana und vergleichbaren Haltungen geübt werden.
Asanas
- Asanas in 751: Dehnung der Adduktoren
- Asanas in 752: Kräftigung der Adduktoren
- Asanas in 756: Dehnung des Gracilis
- Asanas in 757: Kräftigung des Gracilis
- Asanas in 711: Dehnung der Hüftflexoren
- Asanas in 816: Dehnung des Rectus femoris
- Asanas in 711: Dehnung der Hüftbeuger
- Asanas in 712: Kräftigung der Hüftbeuger