yogabuch / bewegungsphysiologie / haltung
Der Mensch als einziger ausschließlich bipeder Hominide hat eine Menge Anpassungsleistungen seines Skeletts und seiner Muskulatur gegenüber den überwiegend oder ausschließlich quadrupeden Vörgängerspezies hinter sich. Dazu gehört beispielsweise die Erweiterung des ROM der Hüftgelenke (der ursprünglichen Hinterbeine) und deren um 90° verschobeneNormal-Null-Position, weiter die durch die Entlastung der Arme (ursprüngliche Vorderbeine) mögliche Differenzierung der Hand zum vielseitigen Werkzeug mit der Vergrößerung des ROM des zugehörigen Extremitätengelenks (Schultergelenk) sowie als vielleicht bekannteste Anpassung: die Doppel-S-Form der WS statt der C-förmig konvexen WS. Diese ist heute so beschaffen, daß pyhsiologischerweise das Schwerelot des Teilkörpergewichts aus Armen (zumindest nahe Anatomisch Null) mit Kopf und Öberkörper durch die Verbindungslinie der beiden Acetabuli läuft, so daß ebendieses Teilkörpergewichts mit einem muskulären Mindestaufwand im Lot gehalten werden kann.
Für einen überwiegend im Stehen tätigen Menschen sind Skelettgeometrie und muskuläre Ausstattung optimal. Das heutige zivilisierte Leben legt dem Menschen aber deutlich andere Bewegungs- und Haltungsmuster nahe, für die er nicht hinreichend adaptiert ist, oder anders herum, mit seiner vorhandenen Ausstattung nur in gewissen Parameterbereichen stabil bleibt und ansonsten Nebenwirkungen in Kauf nehmen oder Kompensation betreiben muß.
So hat etwa das angelehnte Sitzen, das Millionen Menschen tagtäglich praktizieren, viele unerwünschte Wirkungen. Zuerst finden sich durch die Hüftflexion und Knieflexion entsprechende Verkürzungen der Ischiocruralen Muskulatur, am deutlichsten im monoartikulären Biceps femoris caput breve, sowie im Hüftbereich allem im hüftbeugenden Iliopsoas. Weiter neigen die Muskeln, die das oben beschriebene Teilkörpergewicht kranial der Hüftgelenke abstützen, also Hüftflexoren (Hüftbeuger) und Hüftextensoren durch die fehlende Notwendigkeit ihrer Arbeit zur Atrophie und damit zum Verlust ihrer Kompetenz, andere Alltagssituationen als das abgestützte Sitzen souverän oder überhaupt zu bewältigen, so daß die sitzende Lebensweise sich rückverstärkt. Aber nicht nur die Kraft dieser Muskeln läßt nach, ihr täglicher „Arbeitsbereich“ (hier muß eigentlich von mangelnder Arbeit gesprochen werden) verschiebt sich von Anatomisch Null um runde 90°, dazu wird über viele Stunden des Tages überhaupt kein Bruchteil des ROM genutzt außer der einen sitzenden Position, was zu entsprechenden Kontrakturen führt, kein Wunder also, wenn der Büromensch sich am Ende des Bürotages steif fühlt, ohne Ausgleich ist er am Ende des Tages steif und wird jeden Tag ein wenig steifer. Im Bereich der Beine ist der biartiukuläre Gastrocnemius zu erwähnen, der als für die bipede Fortbewegung wichtiger Wadenmuskel ebenfalls atrophiert und zu Verkürzung neigt. Dies Verhalten schwächt aber nicht nur die Wadenmuskeln, die durch aufrechtes Stehen und Gehen kräftig gehalten werden und mit der Muskel-Pumpe und den Venenklappen für einen guten venösen Rückstrom sorgen, sondern kann auch zu Kontrakturen und Einschränkungen des Geh- und Laufverhaltens führen sowie zur Verkürzung und Schwächung der Achillessehne (Achillodynie) bis hin zum Riss. Es schließen sich hier viele Störungen des Fußes an, die die Verkürzung des Trizeps surae aus Gastrocnemius und Soleus als Risikofaktor haben und ihrerseits wiederum konsekutive Schäden des weiter proximal liegenden Bewegungsapparates zeitigen können. Ein weiterer Faktor ist, daß mit der Schwächung der oben genannten Muskulatur auch die Schwächung ihrer Sehnen einhergeht, so daß beispielsweise ein deutlich erhöhtes Risiko für Insertionstendopathien oder Sehnenrisse gegeben ist.
Neben den Auswirkungen auf die untere Extremität erschlafft auch die Muskulatur des Rumpfes, da das angelehnte Sitzen die Notwendigkeit ihrer Arbeit drastisch reduziert. Die Autochthone Rückenmuskulatur („Rückenstrecker“) und Bauchmuskulatur als wichtigste Haltungsmuskulatur, aber auch wichtigste bewegende Muskulatur des Oberkörpers, verlieren weitgehend ihre Kompetenz, was wiederum zur Rückverstärkung der sitzenden Lebensweise beiträgt. Abhängig von der genauen Position des Beckens und dem Abstützen des Rückens kommt es oft zu einer Überforderung der BWS-begleitenden Autochthonen Rückenmuskulatur, die sich dann meist in einem in der Regel einseitigen Ziehen neben der Wirbelsäule bemerkbar macht. Das zuerst einseitige Auftreten ist eine Folge des häufig skoliotisch veränderten Rückens, durch Seitendifferenzen ist eine Seite zu Mißempfindungen disponiert.
Die genauere Analyse des Sitzverhaltens zeigt oft eine kyphosierte LWS, die dann entsteht, wenn Sitzmöbel ohne Lordosenstütze benutzt werden oder diese durch Abstand des Gesäßes von der Lehne ausgehebelt wird. Die immer wieder lange innegehaltene LWS-Kyphose ist ein massiver Risikofaktor für Bandscheibengeschehen. Sie verursacht und erhält diese und löst die entsprechenden Symptome immer wieder aus. Weiter überspannen viele Muskeln der Autochthonen Rückenmuskulatur mehrere oder viele WS-Segmente, so daß die Schwächung der Muskulatur der LWS durch die Kyphose auf die BWS ebenfalls kyphosierend wirkt. Die Kyphose beider Bereiche legt aber eine Kompensation im Bereich der HWS nahe, damit eine halbwegs aufrechte Haltung des Kopfes ermöglicht und eine Überanstrengung der Augenmuskulatur vermieden wird. Kommt dazu noch eine hohe Bildschirmauflösung oder eine kleine Darstellung der bearbeiteten Inhalte oder auch nur der Bedienelemente, so wird der Kopf relativ zum Thorax nach vorn geschoben, was das ungute Vollbild des Büroarbeiters fast komplettiert. Die Kombination aus HWS-Hyperlordose und hebelarmvergrößernder Kopfvorschubhaltung disponiert zu nachhaltigen Störungen im Bereich der HWS bis hin zu Bandscheibengeschehen. Richtig komplett wird die Fehlhaltung dann, wenn zusätlich die Schulterblätter aus innerer Anspannung ein wenig eleviert werden. Die von Levator scapulae und Trapezius pars descendum geleistete Arbeit verursacht dann früher oder später in diesen Muskeln schmerzhafte Verspannungen, nicht selten auch vom Nacken ausgehenden Verspannungskopfschmerz.
Der Großraum BWS/Schulter/Nacken ist auch auf andere Weise oft von den Folgen der Bürotätigkeit betroffen. Die Orientierung auf ein Bildschirmarbeitsgerät hin, heute zumeist Computer, bringt je nach gegebenen Parametern gleich mehrere Risiken und Nebenwirkungen mit sich. Die manuelle Bedienung der verbreiteten Eingabegeräte Maus und Tastatur neigt dazu, die Schulterblätter in einer gewissen Protraktion zu halten, was bei Benutzung einer Tastatur als Eingabegerät zusätzlich durch die konvergenten Unterarme und die dafür notwendige leichte Endorotation der Oberarme gefördert wird. Die daraus resultierende Umverteilung der Körpermassen gegenüber Anatomisch Null verlagert den Schwerpunkt nach vorn, weshalb nur allzu häufig mittels einer BWS-Hyperkyhose kompensiert wird, damit die autochthone Rückenmuskulatur weniger beansprucht wird. Da der Mensch hier meist eher homo oeconomicus als homo exercitus ist, vermeidet er, seine Rückenmuskulatur beim Tun entsprechend zu trainieren, was ein durchaus nicht unanstrengender Weg sein kann, sondern gibt der Ökonomie des runden Sitzens nach. Die Endorotation der Oberarme trägt in den sie verursachenden Muskeln, vor allem dem Deltoideus pars clavicularis, ebenfalls zur Hypertonus bei. Werden andererseits die Schulterblätter gewohnheitsmäßig retrahiert gehalten und ridiger Aufwand betrieben, den Oberkörper gestreckt zu halten, so kann dies auf Dauer zu einer Steilstellung der BWS führen.
Wird durch häufiges Sitzen ohne Ausgleich der Auswirkungen eine Verkürzung der Hüftbeuger erworben, wird sich das auch im Stehen auswirken, wenn die Verkürzung ein gewisses Maß erreicht hat. Bei gestreckten Kniegelenken ist es dann nicht mehr möglich das Becken aufrecht zu halten. Dies gilt umso mehr, als die muskuläre Kompetenz dazu in Form hinreichend kräftiger und ausdauernder Hüftextensoren nicht mehr vorhanden ist oder gar nicht erst erworben wurde. Aber auch bei guter Kompetenz hätten die Hüftextensoren gegen kontrakte Hüftbeuger keine Chance das Becken aufzurichten, und so wird der Mensch unausweichlich im Hohlkreuz stehen. Dazu wird er auch umso mehr neigen, als der Versuch das Becken aufzurichten mit spürbarer bis massiver Anstrengung verbunden wäre.
Genügt es im physiologischen Fall hinreichend kräftiger Hüftextensoren und hinreichend flexibler Hüftbeuger, das Becken mit der Ischiocruralen Gruppe aufrecht zu halten, so wird deren Einsatz allein einem gewissen Grad an Verkürzung der Hüftbeuger nicht mehr ausreichen, sondern der Gluteus maximus muß zusätzlich akquiriert werden, was der Mensch bereits als unnatürlich empfinden dürfte. Das Hohlkreuz im Stehen findet sich genauso im Gehen, da die Abdrückphase des hinteren Beins eine Hüftextension enthält – falls sie möglich ist. Ersatzweise muß das Becken nach vorn gekippt gehalten werden, was zu einer Hypertrophie einiger Teile der Muskulatur im Bereich der LWS führt, was an sich nicht unbedingt pathogen wäre, aber der dabei mitentstehende Hypertonus ist es.
Es würde diesbezüglich entlasten, würden die Kniegelenke leicht gebeugt, dies bleibt aber meist aus, weil die damit verbundene Anstrengung vor allem im Quadrizeps gescheut wird. Dieser wird schließlich bei weitgehend sitzender Tätigkeit nicht unbedingt gekräftigt oder kräftig erhalten.
Zu den negativen Auswirkungen überwiegend sitzender Tätigkeit gehören noch weitere Phänomene. Liegt dieses Verhalten bereits in der Kindheit und Jugend vor, so werden etwa die Flexoren und Extensoren des Kniegelenks ebenfalls unterentwickelt bleiben, was im Stehen zu einer kompensatorischen Hyperextension des Kniegelenks mit Schwächung der Bandstrukturen führen kann, was Gelenkinstabilität des Knies bedeutet. Zusätzlich kann sich die Gewohnheit entwickeln, den Kraftaufwand der Hüftextensoren zu vermeiden, was mit einer Extension der Hüftgelenke einfach gelingt und zu einer deutlichen und deutlich pathogenen Fehlhaltung der LWS und konsekutiv der weiter oben liegenden Teile der WS führt.
Eine ganze andere Relevanz bekommt der Rücken auch unabhängig von der täglichen Haltung in psychosomatischem Sinne, da er bei vielen Menschen der erste Bereich ist, in dem sich Belastung körperlich niederschlägt. Nicht umsonst ist die Quote der Menschen, die sich mit Rückenschmerzen verschiedener Art bei ihrem Arzt vorstellen, so hoch. Dabei handelt es sich durchweg erst einmal um einen funktionalen und nicht um einen strukturellen Schmerz. Die Art der Belastung ist dabei sehr variabel und bezieht sich nicht nur auf das Arbeitsleben. Auch das Privatleben oder Aspekte dessen können sich als Belastung psychosomatisch auswirken. Möglicherweise ist auch die Summe der Anforderungen aus verschiedenen Bereichen höher als auf Dauer zu tragen wäre.
Im Zusammenhang mit den Begriff Hohlkreuz sind viele irrige Vorstellungen endemisch. Vieler Orten gibt es eine regelrechte Angst davor ein Hohlkreuz zu machen oder ein Hohlkreuz zu haben. Dies soll ein wenig aufgeklärt werden. Hohlkreuz ist im allgemeinen Sprachgebrauch die Bezeichnung für eine Hyperlordose der LWS, es betrifft also den Bereich L1 bis L5. Dabei muß unterschieden werden zwischen einem mehr oder weniger ständigen „habituellen“ Hohlkreuz und einer vorübergehend, etwa zu Übungszwecken, temporär eingenommenen Hyperlordose der LWS. Das Hohlkreuz an sich kann, je nach Ausmaß und Dauer, mehr oder weniger pathogen sein. Eine deutliche habituelle Hyperlordose der LWS kann zum Beispiel zu einer Spondylolisthesis (Wirbelgleiten) oder einer Spinalkanalstenose führen, beides Störungsbilder, die neuroradikuläre Beschwerden mit sich bringen können, also Schmerzausstrahlung ins Bein, Taubheit oder Empfindungsstörungen und sogar motorische Ausfälle. Auch kann der Tonus der Rückenmuskulatur sich so weit erhöhen, daß gerade in Verbindung mit Kyphosierungen der LWS, wie sie häufig im Sitzen vorzufinden sind, der Druck auf die Bandscheiben chronisch erhöht ist, was früher oder später zu strukturellen Schäden (Diskopathien wie Bandscheibenvorwölbung oder -vorfall) führen wird, die ebenfalls neuroradikuläre Beschwerden hervorrufen können.
Oft ist das Hohlkreuz Folge von oder vergesellschaftet mit verkürzten Hüftbeugern, die das Becken (oben) nach vorn kippen. Ohne die ursächliche Verkürzung zu beseitigen, dürfte das Hohlkreuz dann wohl kaum zu lindern sein. Andererseits ist die Hyperlordosierung der LWS etwa im Rahmen einer Hundestellung Kopf nach oben, einer urdhva dhanurasana (Brücke) oder setu bandha sarvangasana („Schulterbrücke“) nicht in der Lage, einem nicht bereits massiv vorgeschädigten Rücken irgendeinen Schaden zuzufügen. Sie wird allerdings den Tonus der LWS-begleitenden autochthonen Rückenmuskulatur ein wenig erhöhen, so daß der Ausführende möglicherweise nach Ausgleich sucht.
Für viele Menschen ist es nicht einfach, zu spüren, ob sie in irgendeiner Körperhaltung ein Hohlkreuz haben/machen. Das gilt für das Sitzen und Stehen oder Gehen, erst recht aber für ungewöhnlichere Haltungen, insbesondere, wenn sie Hüftflexion und Streckung des Rückens als Aufgabe enthalten. Wenn die Möglichkeit besteht, mit den Fingern einer Hand nach den Dornfortsätzen zu fühlen, kann leichter eine Aussage getroffen werden. Treten die Dornfortsätze (optisch oder fühlbar) erkennbar aus dem Rücken aus, so kann angenommen werden, daß das Gegenteil einer Lordose vorliegt, nämlich eine Kyphose. Treten sie nicht erkennbar aus, sind immer noch viele Möglichkeiten gegeben: eine Steilstellung der WS, eine physiologische Lordose oder eine Hyperlordose. Wird jetzt das Becken in den Hüftgelenken abwechselnd in beide Richtungen gekippt, so kann meist angenommen werden, daß bis zu dem Punkt, an dem eine spürbare Tonuszunahme der Muskulatur der LWS erfolgt, noch keine Hyperlordose vorliegt. Geht man von dem Punkt, an dem die spürbare Tonuszunahme erfolgt, ein wenig zurück in Richtung des geraden Rückens, so findet man die physiologische Lordose, oder wenn man keinen einzelnen exakten Winkel als physiologisch annehmen will, das Intervall, das man mit einer Randunschärfe behaftet, als physiologisch ansehen kann. Dieses Verfahren kann in den meisten Körperhaltungen angewendet werden und ist auch für Menschen mit noch weniger ausgeprägtem Körperbewußtsein praktikabel.