yogabuch / pathologie / zerrung
Inhaltsverzeichnis
Muskelzerrung (Distension)
Definition
unphysiologische Dehnung (mehr als 25% der Ruhelage) eines Muskels ohne Faserrisse führt zur Irritation der nichtkontraktilen (messenden und regelnden) Muskelspindeln, was die Tonusregulation stört und zu einem Ödem und einer lokalen Entzündung im Muskel führt. Die Zerrung entspricht der funktionalen Störung 2b des Munich consensus statement (Wohlfahrt et al., 2011). Am häufigsten betroffen sind Adduktoren, Quadrizeps, Bizeps femoris, Gastrocnemius (CMSI, Calf muscle strain injuries).
Im American Football liegt die Inzidenz bei 0.84 / 1000 h, im Rugby bei 0.98 bis 5.85, je nach Position, und ist die häufigste Weichteilverletzung. Im Falle eines Rezidivs ist die durchschnittliche Heilungsdauer deutlich erhöht. Im deutschen Spitzenfußball sind 16% der Zerrungen Rezidive, im australischen Football sogar 30%, nach Ekstrand et al., 2011, liegt die erzwungene Spielpause um 30% höher als bei der Erstverletzung. Viele dieser Verletzungen geschehen während der heißen Phase zu Saisonende. Unter Stabhochspringern, Tänzern, Tennisspielern und Triathleten kommt diese Verletzung besonders häufig vor. In Studien zeigten sich keine Einflüsse von Seitendominanz, Körperstatur, Körpergewicht und vermutlich auch Körpergröße und Geschlecht. Es gibt gewisse Hinweise darauf, daß vorausgegangene Störungen in Adduktoren, der Ischiocruralen Gruppe, dem Quadrizeps wie auch Störungen des Kniegelenks die Neigung zu CMSI erhöhen. Eine high risk of bias-Studie zeigt einen begrenzten Zusammenhang zwischen CSMI und in den letzten 12 Monaten aufgetretenen Störungen in Unterschenkel, Fußgelenk/Fuß, Bein, Kniegelenk und Rücken. Eine Metastudie zeigt Alter und vorausgegangene CSMI als die wichtigsten Risikofaktoren, sowie andere Studien für Quadrizeps, Ischiocrurale Gruppe und Adduktoren. Es gibt begrenzte Evidenz für vorausgegangene Störungen der Weichteile oder Gelenke der kninetischen Kette der unteren Extremität. Für die Ischiocrurale Gruppe konnte eine Studie gute Flexibilität als risikomindernd nachweisen. Außerdem gibt es einen Zusammenhang zwischen verminderter Flexibilität des Quadrizeps (unter einer bestimmten Schwelle) und Zerrungen der Ischiocruralen Gruppe.
Grundsätzlich sind biartikuläre Muskeln eher betroffen als monoartikuläre, die Zerrung tritt weit häufiger in exzentrischen Belastungen auf oder verschlechtert sich durch diese und Muskeln mit einem höheren Anteil an schnellen Typ-2-Fasern sind eher betroffen als solche mit einem höheren Anteil an langsamen Typ-1-Fasern. Damit erfüllt etwa der häufig betroffenen Gastrocnemius alle drei Bedingungen.
Bei Zerrungen liegt i.d.R. kein auslösendes Trauma zugrunde, meist ist eine Tätigkeit mit wiederholten Bewegungen der Auslöser. Das erste Empfinden einer Störung tritt meist in einer exzentrischen Bewegung auf, bei der der Muskel einen Impuls zur Kontraktion erhält, und verstärkt sich mit jeder gleichartigen exzentrischen Bewegung. Ab einem gewissen Schmerzlevel wird meist klar, daß die Bewegung abgebrochen werden sollte. Wer die auslösende Bewegung weiter fortführt, riskiert eine schwerere Zerrung mit wesentlich längerer Heilung (bis zu 8 Wochen) oder sogar einen Muskelfaserriss, wenn nicht gar einen Muskelbündelriss. Da Zerrungen einen der wichtigsten Gründe für ausgefallene Trainings- oder Wettbewerbszeit im Profisport darstellen, wird in dem Bereich viel zu Prävention und Therapie geforscht. Einige Therapieoptionen, die dem Freizeitsportler meist nicht zur Verfügung stehen, finden sich bei der Therapie des Muskelfaserrisses.
Muskelzerrungen können in Anlehnung an O’Donghue in drei Grade eingeteilt werden:
- mit milder Symptomatik, nur minimale strukturelle Schäden am Muskel, keinen oder geringen Einschränkungen und einer Rehabilitationszeit von 10-14 Tagen
- mit moderaten Schmerzen, merklichen Einschränkungen, möglicherweise Schwellung und Hämatom sowie einer Rehabilitationszeit von 6-8- Wochen.
- mit schweren Einschränkungen, Muskelkrampf, Schwellung und deutlichem Hämatom sowie einer Rehabilitationszeit von nicht unter 8-12 Wochen.
Entwickelt sich eine Zerrung vom O’Donghue Grad 1, und die Aktivität wird beibehalten, entsteht daraus schnell eine vom Typ 2 oder 3. Typische Auslöser sind explosive Kraftentfaltungen. Zerrungen entwickeln sich eher in biartikulären oder polyartikulären Muskeln als in monoartikulären. Zerrungen treten gerne sehnennah oder in der Sehne nahe der Insertion auf.
Folgt man Soller, sind 4 Grade sinnvoll, die per MRT unterteilt werden:
- 0: Symptomatik ohne pathologischen Befund
- 1: Muskelödem ohne Gewebeschaden
- 2: partieller Muskelriss
- 3: vollständiger Muskelriss
Nach einer Studie von Ekstrand et al., 2012, die 4 Jahre lang Daten sammelte und bis max. 48 nach der Verletzung per MRT bewertete, sind im europäischen Spitzenfußball 70% der Muskelverletzungen vom Schweregrad bis einschließlich 2, was die Einteilung als zu grob erscheinen läßt, da sie die nicht-strukturellen Schäden nicht klassifiziert, die aber für 50% der Spielausfallzeit verantwortlich sind. Dabei ist zu bneachten, daß inadäquate Versorgung oder mangelnde Schonung aus nicht-strukturellen Schäden leicht strukturelle Schäden werden lassen.
Munich Consensus Statement
Auf der Münchener Konsensus-Konferenz zur Terminologie und Klassifikation von Muskelverletzungen 2011 fanden sich 30 Wissenschaftler und Profisport-Mannschaftsärzte (Mannschaftsärzte von Erstliga-Teams verschiedener Mannschafts-Sportarten, der UEFA, der FIFA und des IOC) zusammen, allesamt native speaker. Ein Fragebogen zeigte, daß bis dato keine einheitliche Terminologie gegeben war und Begriffe wie strain sehr uneinheitlich benutzt wurden.
Im Bemühen, eine einheitliche Ternminologie zu finden, einigten sich die Beteiligten auf folgende Unterteilung:
Indirekte (atraumatische) Schäden:
funktionelle Störungen:
Akute indirekte Muskelerkrankung ohne makroskopisches Korrelat; häufig ist ein erhöhter Muskeltonus unterschiedlichen Ausmaßes zu finden, und es ist eine deutlich erhöhte Anfälligkeit für Risse gegeben. Atiologisch differenziert sich diese Kategorie weiter:
1a1: Muskelverhärtung / Muscle firmness (tightness): zu Rissen neigende Zunahme des Muskeltonus unterschiedlichen Ausmaßes
1a2: erschöpfungsbedingte Muskelstörung / Fatigue-induced muscle disorder: Umschriebene longitudinale Zunahme des Muskeltonus (Verhärtung) aufgrund von Überanstrengung oder veränderten Parametern
1b: Muskelkater / DOMS (Delayed Onset Muscle Soreness): Allgemeinerer entzündlicher Muskelschmerz vor allem nach ungewohnten, exzentrischen Abbremsbewegungen, die auf physiologischer, metabolischer und neuromuskulärer Ermüdung basieren, wobei die Übergänge dazwischen fließend sind.
2a. Spinale neuromuskuläre Funktionsstörung: Umschriebene longitudinale Zunahme des Muskeltonus (Verhärtung) aufgrund einer funktionellen oder strukturellen Störung der WS
2b. muskuläre neuromuskuläre Funktionsstörung („Zerrung“): Umschriebener spindelförmiger Bereich mit erhöhter Muskelspannung (Verhärtung), verursacht z.B. durch gestörte neuromuskuläre Steuerung wie z. B. reziproke Hemmung
strukturelle Schäden: Jede akute indirekte Muskelerkrankung mit makroskopischem Korrelat
3a kleiner, weniger als ein Muskelfaserbündel umfassender Riss
3b. moderater Riss: mehr als ein Faserbündel umfassender Riss
4. subtotaler oder kompletter Muskelriss oder Avulsion
Direkte (traumatische) Schäden:
- Kontusion (Prellung)
- Lazeration (Platzwunde)
Entwickelt sich eine Zerrung vom O’Donghue Grad 1, und die Aktivität wird beibehalten, entsteht daraus schnell eine vom Typ 2 oder 3. Typische Auslöser sind explosive Kraftentfaltungen. Zerrungen entwickeln sich eher in biartikulären oder polyartikulären Muskeln als in monoartikulären. Zerrungen treten gerne sehnennah oder in der Sehne nahe der Insertion auf. Unter den monoartikulären Muskeln scheint der Adduktor longus auffällig häufig betroffen zu sein. Außerdem scheinen fast-twitch (Typ 2)-Fasern anfälliger zu sein als slow-twitch (Typ 1)-Fasern.
Terminologisch ist vor allem der englische Sprachgebrauch recht uneinheitlich, die üblichen Begriffe sind Strain, pulled muscle oder teared muscle, wobei letzterer ebenso einen Muskel(faser)riss beschreibt.
ICD M62
Ursache
- unphysiologische, nach Kraft oder Dehnungsanforderung nicht dem Trainingsstand oder der Situation entsprechende Beanspruchung
Prädisponierend
– Verhalten
- unzureichender Trainings- oder Dehnungszustand
- unzureichendes Aufwärmen
- Sportarten mit schnell wechselnder Anforderung an die Muskulatur, Sprint, Fußball, Handball, Tennis, Badminton, Squash,..
- Überforderung
- Übermüdung der Muskulatur
- schlechter Allgemeinzustand
- Mangelnde Flüssigkeits- oder Elektrolytzufuhr
- Einnahme anaboler Steroide
– Bewegungsapparat
- Deformitäten des Fußes
- muskuläre Dysbalancen, z.B. zwischen Agonisten und Antagonisten
- Mangelnder Trainingsstand bzw. Kraft des betroffenen Muskels
- Mangelnde Flexibilität des Muskels
– weitere Faktoren
- niedrige Umgebungstemperaturen
- bestehende Erkältung
Diagnose
- Sono zum Ausschluß von Faserrissen und Einblutungen
- Druckschmerzhaftigkeit
- Verhärtung
- MRT: erhöhtes T2w-Signal, gefiedert entlang der Fasern; in T2w fehlen möglicherweise die hyperintensiven Fettstränge
Symptome
- plötzlich auftretende, mit jeder gleichartigen Bewegung zunehmende Bewegungsschmerzhaftigkeit
- krampfartiger Belastungsschmerz
- Dehnungsschmerzhaftigkeit, ziehend bis stechend, Dehnen bessert aber
- Druckschmerzhaftigkeit
- im Gegensatz zu Muskelfaserriss (dort schlagartig): allmähliche Emtwicklung des Schmerzes
- Tonus im Bereich der Zerrung oft erhöht
- verspanntes, verhärtetes Gefühl im Muskel
- kein Funktionsverlust
- ggf. leichte Schwellung
Komplikationen
- Muskelfaserriss, Muskelriss
- Sehnenriss
- vor allen in jungen Lebensjahren: Avulsionsfraktur
- Rezidive durch Defektheilung: Narbengewebe macht den Muskel anfälliger wegen Funktionslosigkeit und veränderter Flexibilität
Therapie
- sofortiger Abbruch der Belastung
- PECH:
- ggf. Infiltrationstherapie in den betroffenen Muskel: Blockade der Innervation zur isometrischen Detonisierung
- wenn möglich Lauftraining im schmezrfreien Bereich
- nach 1-2 Wochen Schonung sollte die Muskulatur wieder voll Einsatzbereit sein
- Kriterien für die Wiederaufnahme des Sports sind:
- komplette Schmerzfreiheit
- volle vorherige Flexibilität
- volle vorherige Muskelkraft
Jede Wiederaufnahme des Sports vor Erfüllung der Kriterien hat ein hohes Risiko eines Rezidivs. Statistisch dauert es eine Zerrung bis zur risikoarmen Wiederaufnahme des Sports in leichten Fällen 4-6 Wochen, in schwereren Fällen 4-6 Monate.
- KEINE Antophlogistika, KEINE Massagen oder Wärmeanwendungen in den ersten 48 Stunden, KEIN Alkohol in den ersten 48 Stunden