yogabuch / bewegungsphysiologie / abduktion (allgemein)
Abduktion bedeutet Wegführen. Im Yogabuch wird der Begriff ohne weiteren Bezeichner nicht beim Schultergelenk gebraucht (dort heißt es frontale Abduktion bzw. laterale Abduktion), wohl aber beim Hüftgelenk für die Bewegung des Beins nach lateral, genauso bei den kleinen und großen Fingern und Zehen (Hallux, Pollex). Das begriffliche Gegenteil wird ebendort benutzt für das Heranführen an die Mittellinie des Körpers, Handmittellinie oder Fußmittellinie. In der anatomischen Literatur finden sich nicht wenige Quellen, die eine unzureichend scharfe und semantisch inkonsistente Nomenklatur pflegen, in dem sie die frontale Abduktion des Arms korrekterweise als „Anteversion“ bezeichnen, dies aber nur bis zu einem Winkel von kleiner als 90°. Ab 90° heißt die Bewegung dann „Elevation“. Die Bewegung des Arms nach lateral (Lateralabduktion) heißt „Abduktion“, aber wiederum auch nur bis zu einem Winkel kleiner 90°. Danach heißt auch diese Bewegung „Elevation“. Die Unterscheidung zwischen einer frontalen und einer lateralen 100°-Bewegung ist damit also nicht möglich. Mehr noch heißt diese Bewegung („Elevation des Arms“) ab 90° damit genauso wie die Bewegung des Schulterblatts nach kranial, deren Ausführung oder Unterlasung aber nicht notwendig für den lateralen und den frontalen Winkel des Arms zur Körperachse ist. Lediglich bei eingeschränkter Flexibilität vor allem des Latissimus dorsi gibt es überhaupt einen Zusammenhang, nämlich derart, daß dieser Muskel die gleichzeitige Elevation des Schulterblatts und die frontale Abduktion oder laterale Abduktion des Arms einschränkt. Dies liegt in seiner Eigenschaft, das Schultergelenk und das Skapulothorakale Gleitlager (welches kein Gelenk ist) zu überziehen.
Es wird noch ein wenig verwickelter, da durch die Gelenkstruktur mit dem kranial nach lateral hervorstehendem Akromion des Schulterblatts eine Außendrehung (des kaudalen Angulus inferior nach lateral) des Schulterblatts notwendig wird, damit der Humeruskopf nicht an das Akromion anstößt. Zusammen mit der Bandstruktur des Schultergelenks führt das zu dessen Eigenschaft, daß die laterale Abduktion nur bis gut 90° in endorotierter Stellung des Arms möglich ist. Für weitere laterale Abduktion muß er exorotiert werden, das Maß der möglichen lateralen Abduktion ist also eine Funktion des Rotationswinkels! Ebenso und in gleichem Sinne ist die Abduktionsfähigkeit im Hüftgelenk (also nach lateral) eine Funktion der Rotation des Femur: die Abduktion ist in neutraler Rotationsposition nur gute 20° möglich, wird das Bein hingegen weit ausgedreht, ist für die lateralen Abduktion erst sehr viel später und vor allem durch die Ischiocrurale Gruppe eine Bewegungsgrenze gesetzt, die dann weich elastisch ist im Gegensatz zu der ohne Exorotation die fest-elastisch oder gar hart-elastisch ist.
Dies sind Tatsachen, die in der allgemeinen anatomischen Literatur zu selten Erwähnung finden. Man mag aber den Autoren zugute halten, daß diese Zusammenhänge bei sehr guter Beweglichkeit der Probanden, wie sie unter Yoga Übenden nicht selten zu finden sind, ungleich klarer hervorstechen als bei einer Probe aus dem Bevölkerungsschnitt.
Weitere Punkte sind erwähnenswert: erstens wird die Rotationsfähigkeit des Oberarms mit zunehmender Abduktion nach lateral oder frontal immer eingeschränkter, so daß in der exakten Überkopfhaltung des Arms kaum noch einige Grad übrig bleiben. Der größte Teil einer scheinbaren Bewegung dürfte sich als Protraktion oder Retraktion des Schulterblatts herausstellen. Zweitens können sehr bewegliche Probanden die Arme sowohl 180° frontalabduzieren als auch 180° lateralabduzieren, so daß dort der Grenzwert beider Bewegungen der gleiche ist. Werden die beiden Bewegungen noch weiter ausgeführt, so unterscheiden sich die Resultate natürlich. Man könnte bei einer 185° Lateralabduktion auch von einer 180° Frontalabduktion zuzüglich 5° Transversaladduktion sprechen.
Die Tatsache, daß sich in der Nomenklatur eigenständige Begriffe für das Anheben des Beins nach vorn (Flexion des Hüftgelenks) und des Arms (Anteversion im Schultergelenk) nach vorn, also ins Gesichtsfeld, etabliert haben, nicht aber zur Seite, sollte sich hinreichend in den typischen menschlichen Verrichtungen seit Urzeiten begründen: die meisten Tätigkeiten spielen sich im unnmittelbaren Gesichtsfeld ab, sei es etwa aufheben oder ablegen, bearbeiten, anreichen. Hingegen ist die laterale Abduktion im Hüftgelenk ohne Exorotation im Alltag kaum zu finden und selbst mit Exorotation eher in sportlichem Zusammenhang oder etwa beim Klettern. Im Falle des Schultergelenks sieht es mit der lateralen Abduktion nur wenig günstiger aus, auch diese würde gerade beim Umgang mit schwereren Gegenständen vermieden, schließlich ist nach Konstruktion der Füße ein Abstützen nach vorn leicht möglich, zur Seite hin aber nur mit Exorotation des Beins oder Abduktion im Hüftgelenk, also werden Gegenstände in den meisten Tätigkeiten selten zur Seite hin angereicht und noch weniger seitlich bearbeitet.
Anzumerken sei noch, daß sich in älterer Literatur noch der Begriff Flexion für die Fronalabduktion des Arms und Extension für die Retroversion des Schultergelenks findet, was als Analogie zum Hüftgelenk entstanden sein dürfte.