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Streckdefizit
Die Unmöglichkeit, ein Gelenk in die vollständige Streckung zu bringen, wie es physiologischer Weise möglich wäre bzw. das Winkelmaß der Diskrepanz. Genauso, aber seltener, wie ein Gelenk wie etwa das Kniegelenk oder das Ellbogengelenk überstrecken können, gibt es auch den Fall, dass die gerade Streckung gar nicht erst erreicht werden kann. Dann spricht man von einem Streckdefizit. Das Ausmaß in Grad wird genauso wie die reine Möglichkeit als „Streckdefizit“ bezeichnet. Zur Prüfung auf ein Streckdefizit muss man den Einfluss das Gelenk überspannender biartikulären und polyartikulärer Muskeln auf den Test ausschließen. Beispielsweise darf zum Test auf Streckfähigkeit des Ellbogengelenks der Oberarm nicht in Retroversion sein, da sonst ein nicht besonders flexibler Bizeps ein Streckdefizit vortäuschen könnte. Um dessen Einfluss auszuschließen wird der Arm besser in knapp 90° Frontalabduktion gebracht, wo dann versucht wird das Ellbogengelenk zu strecken. Wird das Kniegelenk im Standbein (das gilt nicht, wenn ein Spielbein untersucht wird) auf ein Streckdefizit untersucht, muss das Hüftgelenk deutlich flektiert werden, damit der Einfluss der den Oberschenkel nach ventral ziehenden Hüftbeuger kein falsch positives Ergebnis hervorruft. Der Flexionswinkel darf aber auch nicht zu groß sein, da sonst der biartikuläre Anteil der Ischiocruralen Gruppe ebenfalls ein falsch positives Ergebnis bewirken kann. Aufseiten des dem Kniegelenk kaudal benachbarten Gelenks, dem Fußgelenk muss ebenfalls ausgeschlossen werden, dass biartikulären und polyartikuläre Muskeln wie der Gastrocnemius Ergebnis verfälschen. Hierzu muss das Fußgelenk nur aus einer Dorsalflexion heraus einen Anatomisch Null-konformen Winkel erreichen können, was bis auf wenige pathologische Situationen immer gegeben sein dürfte, weil die dem Menschen als Fortbewegung gewohnte Bewegung des Gehens mit der ihr eigenen Plantarflexion, die typischerweise einen Beitrag zum Vortrieb leistet, eine hinreichende Beweglichkeit regelmäßig aufrechterhalten dürfte. Anders könnte es sich verhalten, wenn die Tätigkeit des Gehens etwa aufgrund einer Tetraplegie vollständig entfällt und zudem noch der Fuß regelmäßig langanhaltend in dorsalflektierter Stellung abgesetzt wäre. Dann könnten beim Versuch zu stehen gleich drei auf negative longitudinale Muskeladaption beruhende Kontrakturen das Strecken des Kniegelenks des Standbeins verhindern:
- im Fußgelenk mit seiner durch lange Dorsalflexion erworbenen Kontraktur, die eine Anatomisch-Null-konforme Stellung des Fußgelenks verhindert
- im Kniegelenk vor allem mit seinem durch langes knieflektiertes Sitzen verkürzten Bizeps femoris caput breve
- das Hüftgelenk mit seinen durch hauptsächlich hüftflektiertes Sitzen verkürzten Hüftbeugern
Der erste und dritte Effekt müssen durch deutliche aber nicht übermäßige (15° sollten ausreichen, schon 30° sind in Extremfällen zu viel) Flexion im Hüftgelenk bzw. leichte Plantarflexion im Fußgelenk ausgeschlossen werden, um auf ein echtes Streckdefizit im Kniegelenk testen zu können. Dann gilt es bei positivem Testergebnis auf Streckdefizit (das Kniegelenk lässt sich sowohl aktiv als auch passiv mit externem Krafteinsatz nicht strecken) noch herauszufinden, ob das Streckdefizit muskulärer Natur ist oder nicht. In ersterem Fall würde bei dem vorsichtig progredient durchgeführten Versuch das Gelenk durch externe Krafteinwirkung zu strecken im verkürzten Muskel ein deutliches Dehnungsempfinden auftreten, also im obigen Beispiel im Bizeps femoris caput breve auf der äußeren Rückseite des Knies und Oberschenkels, lateral vom Knie aus nach beckenwärts ausstrahlend. Tritt überhaupt keine Dehnungsempfindung in das Gelenk überspannenden Muskeln auf, liegt der Verdacht nahe, dass das Streckdefizit nichtmuskulär ist. Treten hierbei nichtmuskuläre Missempfindungen auf, sollte der Versuch das Gelenk zu strecken abgebrochen und eine fachliche Abklärung eingeleitet werden. In Analogie zum Streckdefizit gibt es auch das Beugedefizit.